Neue Ausstellung im GrazMuseum: „Lager Liebenau. Ein Ort verdichteter Geschichte“ – zu sehen ab 15. November 2018
Das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung arbeitete die Geschichte der NS-Zwangsarbeit in Graz auf und gestaltete die erste Ausstellung zu dem Thema
Graz (OTS) – „Im Frühjahr 2017 stieß ein Bautrupp bei Grabungen für
das Murkraftwerk in Graz auf Mauerteile und eine Treppe. Sie gehören
zum ehemaligen Lager Liebenau, dem größten Zwangsarbeiterlager der
Nationalsozialisten in Graz. 1940 als Lager V für Umsiedler
gegründet, war der Komplex im April 1945 eine Station ungarischer
Jüdinnen und Juden auf ihren Evakuierungsmärschen ins KZ Mauthausen.
Mindestens 34 Personen wurden hier erschossen. Nach dem Prozess vor
einem britischen Militärgericht 1947, bei dem zwei Todesurteile wegen
Kriegsverbrechen ausgesprochen wurden, wuchs – im wahrsten Sinne des
Wortes – Gras über das Areal. Wo sich einst Baracken befanden,
entstanden Wohnhäuser und öffentliche Einrichtungen. Für Jahrzehnte
geriet dieses dunkle Kapitel der Grazer Zeitgeschichte in
Vergessenheit“, erzählt die Zeithistorikerin Barbara Stelzl-Marx. Sie
leitet das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung (BIK),
das die Geschichte der NS-Zwangsarbeit in Graz aufarbeitete und die
neue Ausstellung der Stadt Graz konzipierte.
Im Gedenkjahr 2018 zeigt das GrazMuseum die erste
wissenschaftliche Ausstellung zum Lager Graz-Liebenau (Dauer der
Ausstellung: 15. November 2018 – 8. April 2019). Sie widmet sich der
Zwangsarbeit in Graz, dem Lager Liebenau während der NS-Zeit, den
Kriegsverbrechen im April 1945, dem Prozess vor einem britischen
Militärgericht und dem aktuellen Umgang mit diesem Ort verdichteter
Geschichte. Kürzlich in Archiven aufgefundene Dokumente liefern neue
Einblicke, von ArchäologInnen ausgegrabene Relikte weitere
Erkenntnisse. Neben einem vielseitigen Begleitprogramm bietet der
reich illustrierte Begleitband komprimierte Hintergrundinformationen
und dokumentiert die zentralen Inhalte der Ausstellung.
Stelzl-Marx erklärt den Kontext dieses größten
NS-Zwangsarbeiterlagers in Graz: „Das Lager Liebenau ist als Produkt
der NS-Herrschaft in Graz zu sehen, dessen unterschiedliche
Funktionen eng mit der NS-Ideologie zusammenhängen. Es ist ein Ort
verdichteter Geschichte. 1940 wurde es zunächst als Lager V für
umgesiedelte ‚Volksdeutsche‘ gegründet. Hier diente die Idee eines
völkisch homogenen Staates als Leitmotiv.“
Parallel dazu war die Expansion, insbesondere die Eroberung des
„Lebensraums im Osten“, ein Bestandteil des NS-Regimes. Obwohl die
Front bis knapp vor Kriegsende weit entfernt war, machten sich die
Auswirkungen bald auch in Graz bemerkbar: Die Baracken des Lagers
Liebenau beherbergten nun mehrere tausend Menschen aus vielen Teilen
Europas, die für die deutsche Kriegswirtschaft – insbesondere bei
Steyr-Daimler-Puch – arbeiteten. Insgesamt acht Millionen von halb-
bis unfreiwillig verpflichteten Zwangsarbeitskräften bildeten im
„Totalen Krieg“ ein wichtiges Rückgrat der Kriegsproduktion.
„Liebenau als größtes Zwangsarbeiterlager in Graz erzählt diese
bedrückende Geschichte von Ausbeutung, Unterwerfung, Diskriminierung,
Zwang und Leid in all ihren Facetten. Die ‚rassisch-ideologisch‘
geprägte Ungleichbehandlung der einzelnen LagerbewohnerInnen
überschattete ihr Leben hinter Stacheldraht“, so Stelzl-Marx.
In den 190 Holzbaracken konnten etwa 5.000 Personen untergebracht
werden. Rund 70 Prozent der registrierten zivilen ZwangsarbeiterInnen
waren männlich, knapp ein Viertel stammte aus der Sowjetunion, die
übrigen vorwiegend aus Frankreich, dem „Protektorat Böhmen und
Mähren“, Italien, Kroatien oder Griechenland. Die überwiegende
Mehrheit war zwischen 15 und 30 Jahre alt. Mindestens 67 Kinder kamen
hier auf die Welt, weit über 200 Menschen waren jünger als 14 Jahre.
Mehr als die Hälfte der ZwangsarbeiterInnen verrichtete ihren Einsatz
als HilfsarbeiterInnen.
Kurz vor Kriegsende 1945 gipfelten schließlich die tödlichen
Konsequenzen der NS-Politik im Lager Liebenau in einem Massaker an
ungarischen Jüdinnen und Juden – zu einem Zeitpunkt als Auschwitz und
die anderen Todeslager im Osten bereits befreit waren. Diese Morde
sind ein Bestandteil der größeren, dezentralisierten
NS-Endphaseverbrechen der „Todesmärsche“, die sich im Fall der
ungarischen Jüdinnen und Juden vom sogenannten „Südostwall“ bis nach
Mauthausen und Gunskirchen zogen. Sie gelten als „Holocaust vor der
Haustüre“. „Das Lager Liebenau war für die durchziehenden Kolonnen
ungarischer Jüdinnen und Juden im April 1945 ein Ort des Schreckens:
Hier zeigte sich die in der NS-Ideologie innewohnende Verachtung für
als minderwertig eingestuftes Leben, hier manifestierte sich der
Vernichtungsgedanke des Regimes“, sagt Stelzl-Marx.
Mit insgesamt fünf Themenclustern wird – sowohl in der Ausstellung
als auch in der Publikation – der ursprüngliche Name des Lagers
(Lager V) aufgegriffen. Die römische Zahl V spiegelt sich dabei im
Buchstaben V wider, der jeweils die fünf Hauptthemen einleitet und
sich wie ein roter Faden durchzieht:
Verführt: Der Blick von außen auf die Volksgemeinschaft – Graz in der NS-Zeit
Verschleppt: Der Blick von innen – Lager Liebenau
Vernichtet: Der Blick auf die Endphasenverbrechen – Todesmärsche
Verurteilt: Der Blick der britischen Besatzer – Nachkriegsjustiz
Vergessen: Der verschleierte Blick – Verdrängen und Erinnern
„Der historische Hintergrund findet Eingang in die Architektur der
Ausstellung“, erklärt der Architekt der Ausstellung, Wolfgang Strauß.
„Sie löst sich vom Gebäude und steht in seiner reduzierten
Formensprache als abstrakte ‚Informationsruine‘ im Raum. Der fast
perfekt wirkende historische Gewölberaum der Gotischen Halle des
Reinerhof steht in einem spannenden Gegensatz dazu.“
„Wir verstehen uns als historisches Museum, das gesellschaftliches
Bewusstsein formt und somit auch im Sinn politischer Bildung ein Ort
ständiger tabufreier Erinnerung an ‚helle‘ wie ‚dunkle‘ Zeiten sein
muss“, sagt Otto Hochreiter, Direktor des GrazMuseums und des
Stadtarchivs Graz. „Die Ausstellung soll auch als proaktive
Kommunikation dienen, um zu zeigen, wie die Stadt mit diesem
sensiblen Thema aus der Vergangenheit umgeht.“
Die KuratorInnen der Ausstellung Barbara Stelzl-Marx, Bernhard
Bachinger und Philipp Lesiak vom BIK wurden von den
wissenschaftlichen MitarbeiterInnen Bianca Sieberer, Dieter Bacher
und Eva-Maria Streit unterstützt.
Begleitband zur Ausstellung: Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Lager
Liebenau. Ein Ort verdichteter Geschichte. Graz – Wien, Leykam, 2018.
20 Euro
Informationen zur Ausstellung und zum Rahmenprogramm:
[www.grazmuseum.at] (http://www.grazmuseum.at)
Link zum Bildmaterial:
[https://bit.ly/2PTghsI] (https://bit.ly/2PTghsI)
[www.grazmuseum.at/presse] (http://www.grazmuseum.at/presse)
Inhaltlicher Kontakt
Barbara Stelzl-Marx
Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung
Tel. 0316 82 25 00-14
barbara.stelzl-marx@bik.ac.at
www.bik.ac.at
Pressekontakt
Emilie Brandl
Ludwig Boltzmann Gesellschaft
Tel. 01 513 27 50-28
emilie.brandl@lbg.ac.at
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