Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 20. Dezember 2018. Von PETER NINDLER. „Österreicher auf Abruf“.

Innsbruck (OTS) – Die Debatte über österreichisch-türkische
Doppelpässe kratzt lediglich an der Oberfläche eines viel tiefer
liegenden Problems: Es geht um Integrationsverweigerung, aber
zugleich um Chancengerechtigkeit für Menschen mit
Migrationshintergrund.

Es gilt wieder einmal zwischen rechtsstaatlichem Prinzip und
gesellschaftspolitischen Realitäten zu unterscheiden. Der Verdacht
auf mehr als 20.000 illegale österreichisch-türkische
Doppelstaatsbürgerschaften begründete sich in letztlich nicht
zuordenbaren Wählerevidenzlisten für türkische Wahlen. Als taugliches
Beweismittel sieht der Verfassungsgerichtshof diese Wählerlisten
nicht an. Und keinesfalls darf seiner Ansicht nach die Beweislast für
den (Nicht-)Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit ohne
Weiteres auf den Betroffenen abgewälzt werden. Das sitzt.
Politisch wurde zuvor und wird freilich nach wie vor ein
Generalverdacht geschürt. Diese Zuspitzung ist allerdings einer
seriösen Auseinandersetzung mit den Herausforderungen gegenüber
Österreichern mit Migrationshintergrund abträglich. Denn tatsächlich
verbirgt sich hinter der Diskussion über illegale
Doppelstaatsbürgerschaften die Frage nach Parallelgesellschaften von
Austrotürken.
Der deutsche Ausnahmefußballer Mesut Özil hat mit dem T-Shirt für den
türkischen Präsidenten Recep Erdogan und dem gemeinsamen Posieren mit
dem Autokraten in Deutschland eine gesellschaftspolitische Debatte
ausgelöst. In der Schweiz war es der „Doppeladler-Jubel“ ihrer
albanischstämmigen „Nati-Spieler“ Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri im
WM-Spiel gegen Serbien. Zugleich ist der Alltag vielerorts ein
Spiegelbild von Özil und Co. So fuhren nach Erdogans Sieg bei den
Präsidentenwahlen Ende Juni Dutzende seiner Anhänger hupend und
türkische Fahnen schwenkend durch Innsbruck. Hat bei ihnen die
Integration versagt? Wahrscheinlich, aber zumindest massiv gelitten.
Deshalb darf sich die Politik am Problem der Integrationsverweigerung
nicht länger vorbeischwindeln. Sie existiert. In Deutschland, in
Österreich und Tirol. Darüber hinaus in Sprache, Kultur und in der
Rolle der Geschlechter. Integration bedeutet jedoch nicht die Aufgabe
seiner Wurzeln oder Identität, sondern es geht um das Hineinwachsen
in eine neue, bestimmende Lebensrealität. Im selben Maße hat die
Politik in Österreich für Chancengleichheit zu sorgen. Das hat
wiederum nichts mit dem politischen Idealbild eines assimilierten
Zuwanderers zu tun.
Schlussendlich braucht es Chancengerechtigkeit in allen
gesellschaftlichen Bereichen und keine hupenden Erdogan-Fans mehr.
Das müssen die Österreicher mit türkischem Migrationshintergrund aber
auch annehmen, ansonsten scheitert Integration. Und sie stempeln sich
dadurch selbst zu Österreichern auf Abruf.

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