Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 1. Februar 2021. Von MICHAEL SPRENGER. „Was heißt denn hier Grundrecht?“

Innsbruck (OTS) – Hier in Innsbruck aufgelöst, in Wien verboten: Will man ein Abdriften des liberalen Rechtsstaates in das Autoritäre verhindern, müssen Freiheits- und Grundrechte verteidigt werden. Dazu gehört eben auch das Demonstrationsrecht.

Es ist noch nicht lange her. Herbert Kickl war es, der auf Geheiß von ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz zum Innenminister angelobt wurde. Als Minister veranlasste er eine Razzia beim Bundesamt für Verfassungsschutz, Monate später machte er klar, was er vom Rechtsstaat hält, als er sagte: „Das Recht hat der Politik zu folgen und nicht die Politik dem Recht.“ In der Kanzlerpartei und bei der Exekutive blieb es ruhig.
Jetzt ist Kickl Oppositionspolitiker – und erklärter Gegner von Kurz und dessen Corona-Politik. Kickl hat keine Berührungsängste mit Querdenker, wenn es darum geht, die Regierung wegen ihrer Corona-Politik zu kritisieren. Dieses Wochenende hätte er wohl auch mit Neonazis demonstriert – doch dazu kam es nicht, weil die Demonstrationen kurzerhand verboten wurden.
Hier wird es nun gefährlich auf dem argumentativ dünnen Eis. Das Demonstrationsrecht ist ein Grundrecht. Auch für Verschwörungstheoretiker. Es kann also nicht sein, dass – wie am Wochenende – Demonstrationen mit einem Federstrich verboten werden. Zur Erinnerung: Vor zehn Tagen kündigte ÖVP-Innenminister Karl Nehammer noch ein neues Einsatzkonzept bei Demonstrationen an, um gegen Maskensünder härter vorgehen zu können. Gut so – schließlich können Maskenverweigerer unser aller Gesundheit gefährden. Die Versammlungen wurden aber vorauseilend verboten, weil mutmaßlich Demonstranten Masken vielleicht nicht tragen könnten. Das geht zu weit.
Auf jeden Fall untersuchungswürdig ist das Verhalten der Innsbrucker Polizei vom Samstag. Da wurden Demonstranten, die gegen die Asylpolitik der Regierung auf die Straße gingen, von der Polizei mehr als nur hart attackiert. Unter den Demonstranten befanden sich Minderjährige, die ihre Solidarität mit jenen Schülerinnen zum Ausdruck bringen wollten, die in der Vorwoche unter Polizeigewalt abgeschoben worden sind. Und was macht die Polizei? Sie besprüht Jugendliche mit Pfefferspray, kesselt Demonstranten ein. Begründung:
Covid-Abstandsregeln wurden nicht eingehalten, weshalb die Kundgebung aufgelöst wurde. Verteidigt man so Grundrechte?
Dass sich die FPÖ für das „Einschreiten“ der Polizei gleich bedankt, die Tiroler VP gar einen Angriff auf den Rechtsstaat wahrnimmt – verwundert wenig, sollte aber egal sein. Denn will man den liberalen Rechtsstaat erhalten, müssen Grundrechte verteidigt werden. Auch wenn dies Kickl hilft.

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