TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Corona-Revanchismus“, Ausgabe vom 5. März 2021 von Peter Nindler.
Innsbruck (OTS) – Dass Deutschland mit aller Härte und Schikanen das Einreiseverbot aus Tirol vollzieht, widerspricht dem europäischen Geist. Tirol hat in der Pandemie bei Weitem nicht alles richtig gemacht, doch der bayerische Zynismus ist politisch charakterlos.
Familien, die in Deutschland und Tirol leben, können sich nicht treffen. Binationale Lebenspartner trennt plötzlich der Grenzbalken, Pendler und Unternehmer werden in Kiefersfelden schikaniert und die Durchreise über das Deutsche Eck wird vielfach unmöglich gemacht:
Polizisten mit Gewehren und Pistolen exekutieren heute ein deutsches Gesicht mitten in einem eigentlich vereinigten Europa.
Kontrollen und negative Corona-Tests bei der Einreise in andere Länder sind sicher nicht das Problem, sondern wären grundsätzlich Teil einer zeitlich befristeten epidemiologischen Lösung in der Pandemie. Damit kann und muss man leben. Doch die deutsche und die bayerische Regierung sanktionieren Tirol mit aller Härte, das hat mit gut nachbarschaftlichen Beziehungen überhaupt nichts mehr zu tun. Der europäische Geist hat sich schon längst verflüchtigt, teilweise leider auch in Österreich, wenn wir an die Reisewarnungen im Sommer für Kroatien denken. Hier wurde in Europa nichts abgestimmt, sondern einfach verhängt. Die Nationalstaaten haben zwischenzeitlich im Europa der deutschen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen das Kommando übernommen.
Angetrieben von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder treibt Berlin die antieuropäische Gesinnung jetzt allerdings auf die Spitze. Die Ungleichbehandlung Tirols gegenüber der ebenfalls mit Deutschland wirtschaftlich eng verflochtenen französischen Grenzregion Moselle, wo die südafrikanische Coronavirus-Variante bereits bei 60 Prozent aller Infektionen grassiert, wird zum politischen Maßstab erhoben. Zugleich soll der Straßengüter-Transit auf der Brennerachse ungehindert rollen und tut es auch. Trotzdem: Menschen zählen für Söder offenbar weniger als die Waren.
Fehler hat Tirol in der Bewältigung der Corona-Krise einige, vielleicht zu viele gemacht. Schönreden geht nicht, doch der bayerische Zynismus mit dem ständigen Fingerzeig auf Ischgl bzw. Tirol ist politisch charakterlos. Umgekehrt tut das niemand, denn Corona löst nach wie vor zu viel Leid, Hoffnungslosigkeit und wirtschaftlichen Niedergang aus. Aber je länger der Corona-Revanchismus Europa ansteckt, desto mehr wird er mutieren. Finanz-, Wirtschafts- und Flüchtlingskrise lösten bereits Erosionsprozesse in der EU aus, der Brexit beschleunigte diese Entwicklung. Und Grenzbalken haben die europäische Solidarität vielerorts längst aus den Köpfen ausgesperrt. Gott sei Dank nicht überall, wie die vorgezogene Impfstofflieferung von der EU-Kommission für Tirol zeigt.
Tiroler Tageszeitung
0512 5354 5101
chefredaktion@tt.com
OTS-ORIGINALTEXT PRESSEAUSSENDUNG UNTER AUSSCHLIESSLICHER INHALTLICHER VERANTWORTUNG DES AUSSENDERS. www.ots.at
© Copyright APA-OTS Originaltext-Service GmbH und der jeweilige Aussender