Das Architekturzentrum Wien trauert um Jan Tabor (1944–2021)

Wien (OTS) – Jan Tabor war Architekturtheoretiker, Publizist und Ausstellungsmacher. Er wurde 1944 in Poděbrady, im damaligen Protektorat Böhmen und Mähren heute Tschechische Republik, geboren und begann als Student in Brünn seine publizistische Tätigkeit. Im Herbst 1968, nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings, emigrierte er mit seiner Frau Zdenka Soucek nach Wien. Das Studium der Architektur und Raumplanung an der Technischen Universität Wien schloss er 1973 ab und arbeitete zunächst im Österreichischen Institut für Raumplanung. Seine Kinder sind Anna-Klara und Jan-Jakob.

Als Kunstkritiker und Essayist machte sich Jan Tabor in den 1970er und 1980er Jahren durch die Entdeckung junger, noch unbekannter Künstler*innen verdient; er schrieb für das Extrablatt, den Kurier und die Arbeiter-Zeitung sowie für den Falter, die Süddeutsche Zeitung und weitere deutschsprachige und tschechische Medien. Sein Interessensgebiet erweiterte sich um die Architektur und den Städtebau; von 1992 bis 2009 war er Lehrbeauftragter an der Universität für angewandte Kunst Wien, zuerst in der Meisterklasse von Wilhelm Holzbauer, danach von Zvi Hecker und schließlich im Studio Zaha Hadid. Von allen war er als motivierender Querdenker, als Katalysator für das diskursive Substrat und als profunder Begleiter vieler Studienreisen hochgeschätzt. Darüber hinaus war er jahrelang Gastprofessor an der Akademie der Bildenden Künste in Bratislava und an der Technischen Universität in Brünn.

Seine sprachlich präzisen Architektur- und Kunst-Kritiken zeichneten sich durch seine originellen, zuweilen unkonventionellen Sichtweisen und durch sein enormes Fachwissen aus. Literarische Beiträge für Ausstellungskataloge, Künstler*innenpublikationen und Architekturbücher pflegte er als „traktat“, „fragment“ oder „manifest“ zu betiteln; oft waren sie mit zahlreichen Fußnoten, Querverweisen und Anmerkungen versehen. 2011 wurde Tabor mit dem Preis der Stadt Wien für Publizistik ausgezeichnet.

Mit bester Stadtkenntnis und seiner Begabung zur scharfsinnig-kritischen Analyse, setzte er sich in zahlreichen Studien mit der Geschichte und Zukunft der Stadt Wien auseinander. Seine immer wieder überraschenden Schlussfolgerungen führten dabei oft zu unerwartet frischen Ergebnissen, die bekannt scheinende Phänomene in ein völlig anderes Licht setzten.

Als Ausstellungsmacher verantwortete er 1994 mit „Kunst und Diktatur: Architektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjetunion 1922 – 1956“ die erste große Ausstellung in Österreich über Kunst in totalitären Regimen; die begleitende Publikation gilt als Standardwerk. Ebenfalls im Künstlerhaus fanden die von Jan Tabor kuratierten Ausstellungen „Kunst, verbaut. Die 90er. Ende der Trennung!“ (1998), „den fuß in der tür: manifeste des wohnens“ (2000), „mega: manifeste der anmaßung“ (2002) und „Die Enzyklopädie der wahren Werte“ (2006) statt. Ein Anliegen dieser Ausstellungen war, der jungen Architekturszene Aufmerksamkeit zu verschaffen und ihren Protagonist*innen zu ermöglichen, ihre Ideen und Gedanken in eine abstrakte, aber konkrete Form umzusetzen und in der Öffentlichkeit zu testen.

Mit diesem Anliegen gründete Jan Tabor 2002 mit anderen das „forum experimentelle architektur“, das zahlreiche Symposien, Exkursionen, Installationen im Stadtraum, Diskussionsveranstaltungen und Vorträge veranstaltete. Darunter etwa die Reihe „fensterstürze“ oder das Forschungsprojekt „Kunst und Befreiung“. Bis 2019 hatte das „forum experimentelle architektur“ seinen Sitz im MuseumsQuartier, als Nachbar des Architekturzentrum Wien. Jan Tabor stand bei den Veranstaltungen gerne als unkonventioneller Denker, als vielwissender ad-hoc-Vortragender und als fröhlicher, herzhafter und einnehmender Gestalter und Moderator im Mittelpunkt. Zugleich Motivator, bot er vielen Menschen eine Chance ihre Ideen, Gedanken, Projekte, Forschungsergebnisse oder auch ihr Lebenswerk einer Öffentlichkeit vorzustellen.

Für das Großprojekt „urbo kune“ entwickelte er die Idee für eine neu zu errichtende Hauptstadt Europas, an der Musiker*innen, Komponist*innen, Philosoph*innen, Literat*innen, Zeichner*innen und Architekt*innen mitwirkten; 2015 wurde die urbanistische Oper „25 stunden in urbo kune“ aufgeführt. Seine eigene Vision von experimenteller Raumgestaltung und nachhaltigem Leben am Land verwirklichte er seit 2011 in der Kunstkolchose Mikulovice bei Znaim.

Jan Tabor ist am 29. Oktober 2021 in Venedig gestorben.

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