TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Das Schlusskapitel“, von Michael Sprenger

Ausgabe vom Dienstag, 1. Februar 2022

Innsbruck (OTS) – Die ÖVP kämpft mit Korruptionsvorwürfen. Die grüne Anstandspartei kommt gerade anständig in die Bredouille. Der geleakte Sideletter zum Regierungsabkommen offenbart die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Wozu formuliert man zu einem Koalitionsvertrag einen Sideletter? Diese Frage ist simpel zu beantworten. Die Vertragsunterzeichner, also die Parteichefs, wollen Vorentscheidungen paktieren, die nicht öffentlich werden sollen. Also ist ein Sideletter nichts anderes als ein Geheimpapier. Und warum will man diese Nebenabsprachen geheim halten? Weil dort Punkte behandelt werden, die mitunter in der Öffentlichkeit Staub aufwirbeln könnten, weil es sich um Absprachen handelt, die mit Anspruch und Wirklichkeit nicht in Einklang zu bringen sind, weil sie die eigenen Funktionäre und die Wählerschaft vor den Kopf stoßen könnten.
Doch nun ist dieses Geheimpapier zum türkis-grünen Koalitionsabkommen ge­leakt worden. Und alles, was man ursächlich verhindern wollte, sorgt nun für Empörung. Zu Recht.
Inhaltlich ist der Sideletter ein Desaster für die Grünen. Die Partei des Anstandes kommt anständig in Bedrängnis. In dem Papier geht es um ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen, um Einfluss beim ORF, um das Ende der Hacklerregelung.
Dass der Sideletter überhaupt bekannt geworden ist, wird hingegen zur Belastungsprobe für diese Koalition. Belastungsprobe? Nein, das ist untertrieben. Die Koalition wandelt schon seit Monaten auf dünnem Eis. Jetzt herrscht Einsturzgefahr. Dass dieses Geheimpapier an den Boulevard gespielt worden ist, ist das Werk der Getreuen des gefallenen Kanzlers Sebastian Kurz. Der neue ÖVP-Chef und Kanzler Karl Nehammer dürfte von diesen Machenschaften nichts gewusst haben. Nur das macht es nicht besser.
Doch warum wurde jetzt das Geheimpapier hinausgespielt? Das hat sehr viel mit Rache zu tun – aber auch mit Kalkül. Es waren schließlich die Grünen, die die Korruptionsvorwürfe gegen die Spitze der ÖVP dafür genützt haben, Kurz in das politische Abseits zu drängen. So etwas vergisst man nicht. Die Grünen sollten beschädigt werden. Von wegen Moralpartei.
Und dann gibt es ja noch den jetzt anlaufenden U-Ausschuss zu den ÖVP-Affären. Dieser birgt für die Kanzlerpartei gehörig Sprengstoff – und für die Grünen offenbart er ein strategisches Dilemma. Einerseits müssen die Grünen die Kritik am Abkommen abfedern. Dafür ist eine Entschuldigung nötig, kein Herumlavieren. Andererseits müssen sie die Provokationen der ÖVP parieren. Denn scheitert die Koalition, muss auch der U-Ausschuss seine Arbeit einstellen. ÖVP und Grüne schreiben gerade an ihrem Schlusskapitel. Ausgang offen.

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