TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Machtlos und ein wenig erbärmlich“, von Gabriele Starck

Ausgabe vom Mittwoch, 1. Juni 2022

Innsbruck (OTS) – Der Weg zur Einigung auf ein Teil-Embargo für russisches Öl zeigt die Schwäche der EU auf. Das selbst ernannte Wertebündnis hat zu lange die Skrupellosigkeit der Antidemokraten unterschätzt – die außerhalb wie auch innerhalb.

Schau her, gegen dich raufen wir uns schon noch zusammen!“ Mehr als diese Botschaft an den russischen Machthaber Wladimir Putin war die nächtliche Einigung der EU-Staaten auf ein Öl-Teilembargo nicht. Darüber täuscht auch die großspurige Vollzugsmeldung von Ratschef Charles Michel, wie weh dies Russland tue, nicht hinweg. Ebenso wenig wie die zur Schau getragene Zufriedenheit diverser Staats- und Regierungs-chefInnen. Es zeigt einzig und allein, dass die EU von sich selbst positiv überrascht war.
Es wird immer deutlicher, dass das Bündnis der 27 europäischen Staaten an die Grenzen seiner Möglichkeiten stößt. Zum einen, was weitere Sanktionsoptionen gegen Moskau betrifft. Sie setzen immer stärker den Europäern selbst zu – und das in einer komplex verwobenen Vielschichtigkeit. Ein einfaches Beispiel: Aufs russische Öl verzichten wollen bzw. können nur Ungarn, Tschechien und die Slowakei nicht. Der Kompromiss, wonach eine Pipeline diese Länder weiter versorgen darf, bringt allerdings andere EU-Staaten ins Schwitzen, die deshalb einen Wettbewerbsnachteil und noch höhere Preise für ihre StaatsbürgerInnen befürchten.
Dabei kann Putin sein Öl ohnehin auch woanders in Geld umwandeln. Ebenso wie Gas, aber ein Embargo darauf ist ohnehin nicht absehbar – zumindest solange neben Österreich auch Deutschland darauf angewiesen ist. Also bleibt man auf absehbare Zeit weiter Putin ausgeliefert. Zum anderen hat sich die EU in ihrem Erweiterungsenthusiasmus einst selbst weltpolitisch entmachtet, als sie verabsäumte, das Einstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik abzuschaffen. So geht fast jeder Entscheidung eine langwierige und mühsame Kompromissfindung voraus und noch schlimmer: 26 Staaten sind von einem erpressbar. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán nützt das schamlos für seine Interessen und die Entdemokratisierung seines Landes aus. Kommission, aber auch der Rat werden so ständig vorgeführt und schauen ohnmächtig zu, weil das Einstimmigkeitsprinzip nur mit Einstimmigkeit aufgehoben werden kann.
Und zu guter Letzt ist da noch die Mutlosigkeit und Bequemlichkeit in der EU, die sie bremst und nebenbei deren Predigten über Werte unglaubwürdig macht: Anstatt mit aller Kraft das lange Verabsäumte nachzuholen und sich auch zum Schutz der eigenen Lebensgrundlagen von den fossilen Energien zu lösen, geben sich die EU-27 bei anderen menschenverachtenden Regimen die Klinke in die Hand und betteln um Öl und Gas.

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