Tiroler Tageszeitung, Leitartikel, Ausgabe vom 1. Juli 2022. Von Floo Weißmann. „Die gestärkte NATO“.
Innsbruck (OTS) – Kremlchef Putin hat die westliche Sicherheitsallianz größer gemacht, als sie je war. Aber das ist nur eine Momentaufnahme. Über der sicherheitspolitischen Zukunft Europas stehen große Fragezeichen.
Für den Moment scheint es, als hätte Kremlchef Wladimir Putin sein geopolitisches Match gegen die NATO bereits verloren. Die westliche Sicherheitsallianz präsentierte sich auf ihrem Gipfel in Madrid so geeint und zielstrebig wie lange nicht mehr – und dank der bevorstehenden Beitritte von Finnland und Schweden auch größer und strategisch besser aufgestellt als je zuvor. Zeitgleich erklärte Putin in Turkmenistan den Ukraine-Konflikt mit angeblichen „imperialen Ambitionen“ der NATO. Doch kein Washingtoner Imperialist hätte zuwege gebracht, was Putin nun geschafft hat. Die neue Stärke der NATO kommt nicht von innen. Sondern sie hat damit zu tun, dass die westliche Allianz zum Zufluchtsort für alle wurde, die sich von Putins imperialen Ambitionen bedroht fühlen. Und die Ukraine, die der Kreml eigentlich wieder russifizieren wollte, ist von ihrem Selbstverständnis her so weit weg von Russland wie nie zuvor. Rückblende: Noch vor einem halben Jahr, als der Kremlchef immer mehr Truppen aufmarschieren ließ, forderte er vom Westen, ihm die Ukraine und generell Osteuropa als russische Einflusssphäre zu überlassen. Das galt im Westen von Anfang an als inakzeptabel. Aber man hoffte, dass man sich mit dem Kreml doch irgendwie arrangieren könne. Offenkundig haben beide Seiten ihr Gegenüber völlig falsch eingeschätzt. Im Westen wollte – außer den ständig warnenden Amerikanern – niemand glauben, dass Putin tatsächlich einen großen Krieg vorbereitete. Und Putin selbst hätte den Angriff womöglich abgeblasen, hätte er vorhergesehen, welche Dynamik das in der Ukraine und im Westen auslösen würde. Möglich ist auch, dass er als Gefangener seiner eigenen Ideologie und Propaganda – und seiner Fehlentscheidungen – agiert und nicht anders konnte.
Ein halbes Jahr später ist die Welt eine andere. Der Westen steht vorerst besser da als Russland, aber für Jubel gibt es keinen Anlass. Denn erstens tobt der Krieg in der Ukraine weiter; noch ist offen, wann und auf welche Weise er endet. Zweitens ist die Einheit der Putin-Gegner eine fragile – besonders, wenn die Folgen des Konflikts auch für die Menschen im Westen stärker spürbar werden und Regierende unter Druck geraten. Drittens muss angenommen werden, dass Putin nicht zurücksteckt. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wozu der Kremlchef, der schon in der Vergangenheit falsch eingeschätzt wurde, noch fähig ist. Und viertens schwebt über allem die Frage, wie Europa aus der gegenwärtigen Frontstellung eines Tages wieder herauskommt. Eine gestärkte NATO dient der Verteidigung gegen eine Bedrohung. Sie ersetzt keine nachhaltigen Friedensstrukturen.
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