TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ vom 30. Juli 2022 von Mario Zenhäusern „Der Wolf wird zum Wahlkampf-Thema“

Innsbruck (OTS) – Der Frust der Bauern und Schafzüchter ist nachvollziehbar. Sie müssen hilflos zusehen, wie ihre Tiere auf den Almen abgeschlachtet werden. Aber der Abschuss einzelner Wölfe löst das grundsätzliche Problem nicht.

Seit Jahren kämpfen die Landwirte und Schafzüchter in Tirol darum, in ihrem Kampf gegen die Wiederansiedelung von großen Beutegreifern – in erster Linie geht es um den Wolf – von der Politik wahr- und auch ernst genommen zu werden. Seit Jahren weisen sie darauf hin, dass sie ihre Tiere auf den heimischen Almen nicht länger den Räubern zum Fraß vorwerfen wollen. Und ebenfalls seit Jahren erklären sie gebetsmühlenartig, dass herkömmliche Herdenschutzmaßnahmen, die in anderen Regionen Österreichs und Europas erfolgreich praktiziert werden, in Tirol aufgrund seiner topografischen Lage zum Scheitern verurteilt sind. Beweise dafür gibt es zuhauf.
Die heimische Politik hat die dringenden Aufrufe, endlich zu handeln, bisher lediglich registriert. Meistens spielten die Regierungsvertreter den Ball mit einem achselzuckenden „Wir können nichts tun“ weiter nach Wien und nach Brüssel. Und dort haben die Tiroler Schafbauern bekanntlich keine Lobby. Jetzt aber kommt Bewegung in die Sache. Die Landesregierung hat gestern einen Abschussbescheid für jenen Wolf erlassen, der zuletzt in Ellbögen und Tulfes mehr als drei Dutzend Schafe gerissen hat, und drängt auf rasche Erledigung. Auch die Opposition im Tiroler Landtag stellt sich hinter die Bauern und ihre Forderung nach wirksamen Maßnahmen.
Das plötzliche politische Engagement kommt nicht von ungefähr. Tirol befindet sich im Wahlkampf, und alle Parteien rittern um die Gunst der Wähler. Allen voran die ÖVP, der massive Verluste drohen und die jetzt mit einem akzentuierteren Anti-Wolf-Kurs versucht, das verloren gegangene Wohlwollen vieler Bauern zurückzugewinnen.
Es ist nachvollziehbar, dass die Schafzüchter ob der aktuellen Situation frustriert sind. Sie müssen mehr oder weniger hilflos zusehen, wie ihre meist mit großem Einsatz aufgezogenen Tiere auf den Almen abgeschlachtet werden. Wen wundert’s, dass sie am liebsten selbst zur Waffe greifen würden, um damit jeden Wolf zu erschießen? Allerdings löst der Abschuss einzelner Tiere das grundsätzliche Problem nicht. Der Großteil der in Tirol identifizierten Wölfe stammt aus Italien, wo sich nach Angaben des Instituts für Umweltschutz und Forschung (ISPRA) in Rom mittlerweile mehr als 3300 Wölfe aufhalten. Jährlich kommen an die 300 Jungtiere dazu. Das ungehinderte Anwachsen der italienischen Population führt zwangsläufig zu einer Ausweich-und Wanderbewegung Richtung Norden und damit nach Tirol. Wer also das für die Bauern inakzeptable Gemetzel auf den heimischen Almen beenden will, muss in Italien ansetzen. Ein schwieriges bis unmögliches Unterfangen.

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