Eingriff in die Unschuldsvermutung in Berichten über Asylwerber

Nach Ansicht des Senats 2 des Presserats verstoßen die im März 2024 veröffentlichten Beiträge „Grausamer Fund in Wien: Mädchen (14) tot“, erschienen auf „krone.at“, „Missbrauchs-Krimi: Kind tot“, erschienen in der „Kronen Zeitung“, und „Nach Tod von Mädchen: ‚Hörte höhnisches Lachen‘“, erschienen auf „krone.at“, sowie „14-Jähriges Mädchen tot in Simmering aufgefunden“, erschienen auf „oe24.at“, gegen den Ehrenkodex für die österreichische Presse.

In den Artikeln wird darüber berichtet, dass eine 14-jährige einen 26-jährigen Asylwerber aufgesucht habe. Es sei zu Geschlechtsverkehr zwischen den beiden gekommen, die 14-jährige sei dann an einer Drogenüberdosis verstorben. Der Asylwerber habe dann die Rettung gerufen.

Die Artikel enthalten verschiedene Mutmaßungen. Bezüglich der Artikel auf „krone.at“ und in der „Kronen Zeitung“ verweist der Senat u.a. auf folgende Passagen: Im Artikel „Grausamer Fund in Wien: Mädchen (14) tot“ heißt es etwa, dass der Verdächtige das Mädchen in seine Wohnung „gelockt“, unter Drogen gesetzt und missbraucht habe. Weiters ist im Artikel „Missbrauchs-Krimi: Kind tot“ von der nächsten _„Horror-Tat“_ die Rede. Im Artikel „Nach Tod von Mädchen: ‚Hörte höhnisches Lachen‘“ erweckt bereits das Zitat in der Überschrift den Eindruck, dass der Asylwerber den Tod des Mädchens vorsätzlich herbeigeführt habe; seine Aussagen werden außerdem als unglaubwürdig dargestellt (z.B. „XXX erzähle in der Einvernahme, dass er Sex mit ihr gehabt habe. _‚Einvernehmlich‘ natürlich“_). Schließlich werden in zwei Beiträgen unmittelbare Parallelen zum Todesfall einer 13-Jährigen gezogen, bei dem drei Asylwerber wegen Mordes und Vergewaltigung schuldig gesprochen wurden.

Bezüglich des Artikels von „oe24.at“ merkt der Senat an, dass bereits im Vorspann festgehalten wird, dass das tot aufgefundene Mädchen _„offenbar unter Drogen gesetzt und missbraucht“_ worden sei. Im ersten Absatz des Artikels wird neuerlich berichtet, dass die 14-Jährige _„mit Suchtgift gefügig und von einem Afghanen (26) missbraucht“_ worden sein solle und der 26-Jährige das Mädchen _„mit Drogen in seine Unterkunft gelockt haben dürfte“_. Auch hier wird ein Vergleich zur Ermordung des 13-Jährigen Mädchens durch drei Asylwerber gebracht.

Die Medieninhaberinnen von „krone.at“ und der „Kronen Zeitung“ nahmen am Verfahren vor dem Presserat teil. In einer schriftlichen Stellungnahme wurde betont, dass die Nationalität des Verdächtigen ein Faktum sei, man jedoch keineswegs durch die Berichterstattung Hass gegen Ausländer schüren wollte. Der Fall sei mit dem Todesdrama um das 13-jährige Mädchen verglichen worden, weil die Sachlage sehr ähnlich gewesen wäre. Zwar habe die Polizei nicht bestätigen können, ob die 14-Jährige vergewaltigt worden sei, zumal es keine Zeuginnen und Zeugen gäbe; seitens des Landeskriminalamtes sei aber wegen eines „bedenklichen Todesfalls“ ermittelt worden. Unabhängig davon stelle sich jedoch die Frage, ob eine junge Frau unter derart massivem Drogeneinfluss Herr ihrer Sinne sei.

In der mündlichen Verhandlung führte die Chefredakteurin von „OE24“ aus, dass man sorgfältig recherchiert habe: Ein Reporter des Mediums sei vor Ort gewesen und habe mit den Nachbarinnen und Nachbarn gesprochen, zudem sei er in ständigem Kontakt mit der Polizei gestanden; der Artikel sei laufend aktualisiert worden. Allerdings räumte die Chefredakteurin ein, dass der Artikel möglicherweise einen missverständlichen Eindruck erwecken könnte und die Bezeichnung als „Missbrauch“ unglücklich gewählt sei.

Der Senat merkt zunächst an, dass ein Bericht über das Ableben einer Minderjährigen, nachdem sie Drogen konsumiert und mit einer älteren Person Sex gehabt hat, für die Allgemeinheit von Interesse ist. Medien können hier einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Bewusstseinsbildung leisten und die Öffentlichkeit sensibilisieren. Die Berichterstattung über Todesfälle von Minderjährigen infolge einer Drogenüberdosis dient daher immer auch der Prävention (vgl. Punkt 10 des Ehrenkodex).

Aus dem öffentlichen Interesse an dem konkreten Vorfall ergibt sich jedoch nicht, dass der Persönlichkeitsschutz der betroffenen Personen missachtet werden darf (Punkt 5 des Ehrenkodex). Von einem Eingriff in den Persönlichkeitsschutz ist insbesondere dann auszugehen, wenn jemand in Zusammenhang mit Straftaten gebracht wird, ohne dass es dafür ausreichende Anhaltspunkte gibt. Zudem ist ein ungerechtfertigter Vorwurf von Straftaten geeignet, in die Unschuldsvermutung des Betroffenen einzugreifen.

Nach Meinung des Senats suggeriert die Berichterstattung in den vorliegenden Artikeln, dass der Asylwerber für den Tod des Opfers verantwortlich sei. Insgesamt entsteht bei den Leserinnen und Lesern der Eindruck, dass der Asylwerber das Opfer unter Drogen gesetzt und sie (gegen ihren Willen) sexuell missbraucht habe. Ein derartiger Vorwurf wiegt schwer und missachtet das Prinzip der Unschuldsvermutung. Der Senat weist darauf hin, dass ein Eingriff in die Unschuldsvermutung immer in der Gesamtschau eines Artikels zu beurteilen ist. Auch Suggestionen bzw. Mutmaßungen können eine mediale Vorverurteilung des Betroffenen bewirken.

Für den Senat ergaben sich in den Verfahren keine Anhaltspunkte, die die Mutmaßungen der Medien entsprechend belegen könnten. Nach Auffassung des Senats ist daher von einem Eingriff in die Unschuldsvermutung des Betroffenen auszugehen, der als Persönlichkeitsverletzung im Sinne des Punkt 5 des Ehrenkodex zu werten ist.

Gegen die Mutmaßungen spricht auch ein Posting der LPD Wien auf der Plattform Twitter/X vom 06.03.2024. In diesem Posting wird ausdrücklich festgehalten, dass in einigen Medien zum Tod der 14-Jährigen teils Inhalte veröffentlicht worden seien, die man nicht bestätigen könne und es laut Obduktion zu keiner Gewaltanwendung gekommen sei.

Der Senat stellt die Verstöße gegen Punkt 5 (Persönlichkeitsschutz) des Ehrenkodex fest und fordert die Medieninhaberinnen auf, die Entscheidungen freiwillig in den betroffenen Medien zu veröffentlichen oder bekanntzugeben.

SELBSTÄNDIGE VERFAHREN AUFGRUND VON MITTEILUNGEN MEHRERER LESERINNEN UND LESER

_Der Presserat ist ein Verein, der sich für verantwortungsvollen Journalismus einsetzt und dem die wichtigsten Journalisten- und Verlegerverbände Österreichs angehören. Die Mitglieder der Senate des Presserats sind weisungsfrei und unabhängig._
_In den vorliegenden Fällen führte der Senat 2 des Presserats aufgrund von Mitteilungen von Leserinnen und Lesern Verfahren durch (selbständige Verfahren aufgrund von Mitteilungen). In diesen Verfahren äußert der Senat seine Meinung, ob Veröffentlichungen den Grundsätzen der Medienethik entsprechen._

Österreichischer Presserat, Sprecher des Senats 2
Dr. Andreas Koller
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