80 70 30: Zeitzeug:innen der Parlamentsfraktionen blicken auf den EU-Beitritt Österreichs vor 30 Jahren zurück

Peter Kostelka, Andreas Khol, Herbert Scheibner, Madeleine Petrovic und Heide Schmidt im Gespräch

Österreich wurde vor 30 Jahren – am 1. Jänner 1995 – Mitglied der Europäischen Union. Bei der Abstimmung im Nationalrat am 11. November 1994 votierten 141 Abgeordnete für und 40 gegen den EU-Beitrittsvertrag. Die Mandatarinnen und Mandatare folgten damit dem Willen der Bevölkerung, die sich bei einer Volksabstimmung im Juni davor mit 66,6 % für einen EU-Beitritt Österreichs ausgesprochen hatte. Eine knappe Woche nach dem Nationalrat erteilte auch der Bundesrat dem Vertragswerk seine Genehmigung.

Welche Erinnerungen zur Volksabstimmung sind nach 30 Jahren noch präsent? Wie verliefen die Diskussionen zur Abstimmung zum EU-Vertrag im Parlament ab? Wie sieht die Bilanz der EU-Mitgliedschaft Österreichs aus? Diese Fragen stellte der Pressedienst des Parlaments ehemaligen Spitzenvertreter:innen der zur Zeit des Beitritts vertretenen Parteien im Hohen Haus im Rahmen des Jahresschwerpunkts 80 70 30. Dazu waren die damaligen Klubobmänner der Regierungsparteien SPÖ und ÖVP Peter Kostelka und Andreas Khol, sowie von der Opposition der ehemalige FPÖ-Mandatar Herbert Scheibner und die Klubobfrauen Madeleine Petrovic (Grüne) und Heide Schmidt (Liberales Forum) zu Gast.

Das Video sowie Fotos der Gespräche sind in der Mediathek auf der Website des Parlaments zu finden.

DER WEG IN DIE EU: VON ZEITRAUBENDEN DEBATTEN UND GLÜCKLICHSTEN MOMENTEN DES LEBENS

Im Gespräch mit dem Pressedienst blicken die ehemaligen Parlamentarier:innen auf ihre persönlichen Eindrücke sowie auf die Stimmungslage im Parlament beim Weg Österreichs in die EU zurück. „Das Werben für den EU-Beitritt Österreichs ist mir positiv in Erinnerung geblieben“, erinnert sich der im Jahr 1994 von der Regierung als SPÖ-Klubobmann ins Parlament gewechselte Peter Kostelka. Es sei „eine Art Wahlkampf“ gewesen, in dem man leicht in Kontakt mit interessierten Bürgerinnen und Bürgern kommen habe können. Vom Ergebnis der Volksabstimmung sei Kostelka „extrem positiv angetan“ gewesen. Die Mitgliedschaft sei „unerlässlich für die Zukunft, wirtschaftliche Entwicklung und Sicherheit Österreichs“ gewesen, weshalb Kostelka bei der am 11. November 1994 abgehaltenen Abstimmung im Parlament aus „persönlicher Überzeugung und aus Respekt vor der überwiegenden Mehrheit der Wähler“ für den Beitritt votiert hat, wie er erzählt.

Ebenfalls klar proeuropäisch positioniert war die damalige Regierungspartei ÖVP. „Seit ich politisch denken kann, war der EU-Beitritt Österreichs ein Wunschziel für mich“, unterstreicht Andreas Khol, damals Klubobmann der ÖVP und später Nationalratspräsident. Wo immer er politisch tätig gewesen sei, habe er auf dieses Ziel hingearbeitet. Khol bezeichnet den 12. Juni 1994, den Tag der Volksabstimmung, als „einen der glücklichsten Momente meines Lebens“. Immerhin habe er in der Zeit ab 1991 in rund 890 Diskussionsveranstaltungen für die Integration Österreichs in das gemeinsame Europa geworben und nicht mit einem so eindeutigen Ergebnis gerechnet.

Ihr sei 1994 bewusst gewesen, Zeitzeugin einer wesentlichen Entwicklung in der Geschichte Österreichs zu sein, betont Heide Schmidt im Interview. Die frühere FPÖ-Politikerin und Dritte Nationalratspräsidentin hatte sich im Jahr davor von den Freiheitlichen abgespalten und war bei den Nationalratswahlen am 9. Oktober 1994 als Klubobfrau mit dem Liberalen Forum (LIF) erstmals ins Parlament eingezogen. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem EU-Beitritt sei für Österreich sowie durch die Gründung des LIF für sie persönlich „eine neue Zeit angebrochen“, so Schmidt.

Obwohl der ehemalige FPÖ-Klubobmann und Verteidigungsminister Herbert Scheibner mit einem Mehrheitsvotum für den EU-Beitritt bei der Volksabstimmung am 12. Juni 1994 gerechnet hat, sei auch er vom Ausmaß der Zustimmung überrascht gewesen. Dies sei aber trotz der EU-kritischen Haltung seiner Partei für ihn keine Niederlage gewesen. Schlussendlich habe die „Werbekampagne der Regierung gefruchtet“. Scheibner selbst hat bei der Abstimmung im Parlament am 11. November 1994 gegen den EU-Beitritt gestimmt. „Das war aber kein Votum gegen ein gemeinsames Europa“, erzählt der ehemalige FPÖ-Politiker.

Neben den Freiheitlichen waren die Grünen vor 30 Jahren ebenfalls dem EU-skeptischen Lager zuzurechnen. Sie erinnere sich noch gut an „zeitraubende und intensive Debatten“ zum EU-Beitritt innerhalb des Grünen Klubs, hält Madeleine Petrovic, damals Klubvorsitzende, fest. Obwohl die Grünen empfohlen hätten, bei der Volksabstimmung gegen den Beitritt zu stimmen, habe man keine antieuropäische Haltung vermittelt.

11. NOVEMBER 1994: DER EU-BEITRITTSVERTRAG STEHT ZUR ABSTIMMUNG IM PARLAMENT

Petrovic erzählt rückblickend, dass es ihrer Fraktion nicht um ein Votum gegen die EU gegangen sei, vielmehr habe es für die Grünen zwei Wege für mehr Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit – einen innerhalb und einen außerhalb der EU – gegeben. Man habe mit den Positionen und Debatten innerhalb der Grünen für eine gut informierte Bevölkerung im Vorfeld der Volksabstimmung gesorgt. In diesem Sinne sei auch das unterschiedliche Stimmverhalten der Abgeordneten ihrer Fraktion zu verstehen. Im Gegensatz zur Zustimmung durch den damaligen Europasprecher Johannes Voggenhuber enthielt sich Petrovic bei der Abstimmung zum Beitrittsvertrag im Nationalrat.

Angesprochen auf die Abstimmung im Hohen Haus am 11. November 1994 hält Herbert Scheibner fest, dass es in der FPÖ-Fraktion – „wie bei anderen Gewissensfragen“ – keinen „Klubzwang“ gegeben habe, gegen die EU-Mitgliedschaft zu stimmen. Die FPÖ sei historisch gesehen zwar eine „sehr pro-europäisch ausgerichtete Partei“ gewesen, jedoch seien damals seitens der Regierungsparteien SPÖ und ÖVP die Anliegen der FPÖ nicht berücksichtigt und kein nationaler politischer Konsens zum Beitritt gesucht worden, bedauert Scheibner. Dies habe durch den damaligen Aufstieg von Jörg Haider vor allem parteipolitische Gründe der anderen Fraktionen gehabt.

Laut Heide Schmidt ist es für das LIF als neue Partei im Nationalrat „strategisch nicht selbstverständlich gewesen“, sich – im Gegensatz zu den anderen Oppositionsparteien FPÖ und Grüne – neben den Regierungsparteien für die EU-Mitgliedschaft Österreichs zu engagieren. Auf die Rolle ihrer ehemaligen Partei im Vorfeld des EU-Beitritts angesprochen, erinnert sich Schmidt, dass es ihr „unter die Haut gegangen“ sei, wie die FPÖ, die sich immer als Europapartei verstanden habe, unter Jörg Haider in den frühen 1990er-Jahren in dieser Sache einen Schwenk vollzogen habe. Um das EU-kritische Wählerpotential nicht alleine den Grünen zu überlassen, habe die FPÖ „in einer so wesentlichen Frage Strategie über Inhalt gestellt“.

Dieser Einschätzung schließen sich auch die beiden ehemaligen Klubobmänner der SPÖ und der ÖVP an. Für Peter Kostelka hatte die ablehnende EU-Haltung der FPÖ nichts mit ihrer europapolitischen Einstellung zu tun. Vielmehr habe der damalige FPÖ-Chef Jörg Haider „aus Kalkül“ seine Partei als Sprachrohr der EU-Gegner:innen etablieren wollen. Andreas Khol bringt ebenfalls taktische Gründe ins Treffen. Zum Ausschöpfen des „Anti-EU-Potentials – sowie wegen Bedenken gegen ein supranationales Europa – habe die FPÖ hier einen Kurswechsel vollzogen.

Was die grundsätzliche Haltung zu Europa betrifft, hält Khol im Gespräch fest, dass der ÖVP-Klub damals „schon seit langem einhellig auf Europakurs gewesen“ sei. Bereits 1966 habe ÖVP-Bundeskanzler Josef Klaus ein Ansuchen auf einen Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) stellen wollen, die SPÖ habe aber in dieser Sache gebremst, bis Bundeskanzler Franz Vranitzky „das Ruder herumgerissen“ und den „Pro-EU-Kurs“ von Alois Mock akzeptiert habe. Danach sei ein „gemeinsamer Weg in die EU“ von den zwei Regierungsparteien gegangen worden, analysiert Khol. Auch Peter Kostelka betont, dass „allen im SPÖ-Klub klar war, dass ein EU-Beitritt alternativlos ist“.

ZEITZEUG:INNEN ZIEHEN BILANZ: WUNSCHZIEL MIT REFORMBEDARF

Wie sieht nun das Resümee nach 30 Jahren EU-Mitgliedschaft Österreichs aus? Haben sich ihre Erwartungen an die EU erfüllt und wo sehen sie Reformbedarf? Die Bilanz der ehemaligen Spitzenpolitiker:innen fällt unterschiedlich aus. Der „glühende Vertreter der Idee des europäischen Bundesstaates“, Andreas Khol, ist mit der EU-Entwicklung „im Großen und Ganzen“ zufrieden“. Der ehemalige Nationalratspräsident geht von einem Zusammenwachsen zu einem „Bundesstaat von Europa“ – mit Rückschlägen – in den nächsten 100 Jahren aus. Obwohl der Weg der EU „vorbestimmt“ und zu einer immer größeren Einheit führe, sei derzeit die Weiterentwicklung durch die Schwäche der Achse Deutschland-Frankreich – Khol bezeichnet sie als den „inneren Motor der EU“ – gebremst. Dazu komme, dass der Europäische Green Deal zu einer „Überbürokratisierung Europas“ und zum Verlust der europäischen Wirtschaftskraft geführt habe. Im Augenblick müsse jedoch der Aufbau eigenständiger Verteidigungsstrukturen das primäre Ziel Europas sein, so Andreas Khol.

Obwohl die EU ihre Fehler habe, sei der Beitritt die richtige Entscheidung gewesen, bilanziert Kostelka. So habe etwa die Einbindung Österreichs in den Binnenmarkt von 500 Mio. Europäerinnen und Europäern große Auswirkungen auf die „Exportnation Österreich“ gehabt. In einer Zeit, wo wieder Krieg in Europa geführt werde, sei es ein beruhigendes Gefühl, einer Gemeinschaft mit Beistandspflicht anzugehören. Zudem sei die EU gerade für ein kleines Land wie Österreich „alternativlos“, da man so seine eigene Zukunft aktiv mitgestalten könne.

Für Kostelka ist „noch viel zu tun, damit aus diesem Kontinent ein gemeinsames Zuhause wird“. Das betreffe etwa die Sicherheitspolitik, da man sich offensichtlich nicht mehr auf transatlantische Garantien im bisherigen Ausmaß verlassen könne. Darüber hinaus sei man „noch lange nicht am Ende der sozialpolitischen Komponente der Europäischen Union“ angekommen. Zudem wünscht sich Kostelka, dass Europa auf globaler Ebene stärker „mit einer Stimme“ auftritt. Mit den Erfahrungen der letzten 30 Jahre würde er vermutlich „nicht mehr so flammend, aber mit derselben Überzeugung“ für einen EU-Beitritt Österreichs werben, so der langjährige SPÖ-Politiker.

Heide Schmidt würde heute „selbstverständlich“ wieder für einen EU-Beitritt Österreichs stimmen. Trotz vieler Fehlentwicklungen habe sich die EU-Mitgliedschaft als „richtiger Weg“ bestätigt. Gerade in einer Zeit, „wo uns Amerika als Partner wegbricht“, sei „das Zusammenwachsen Europas wichtiger denn je“. Enttäuscht zeigt sich die ehemalige Klubobfrau des LIF über die Entwicklung „kontraproduktiver Kräfte“, wie etwa „die nicht mehr demokratischen Zustände in Ungarn“, obwohl man mit der EU-Osterweiterung die aufgenommenen Länder „mit Demokratie fluten“, den Rechtsstaat fördern und die Korruption zurückdrängen wollte. Es tue „weh“, dass die EU nur über eingeschränkte Mittel verfüge, „den Herrn Orban zur Ordnung zu rufen“.

Viele von der FPÖ geäußerten Bedenken gegenüber der EU hätten sich in den letzten 30 Jahren als richtig herausgestellt, zieht Herbert Scheibner eine andere Bilanz. Dies betreffe etwa den Niedergang der Textilindustrie in Österreich oder die damals versprochene Beibehaltung des Schillings. Zudem sei die gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik nicht mit der Neutralität Österreichs vereinbar. Auch der sogenannte „Ederer-Tausender“ sei nie bei der Bevölkerung angekommen. All das habe zur europaskeptischen Haltung der Bevölkerung beigetragen, ist Scheibner überzeugt.

Heute sei er froh, Teil der EU zu sein, diese sei „unbedingt notwendig“, betont der ehemalige FPÖ-Mandatar. Jedoch müsse auf die Eigenheiten der Mitgliedsländer stärker Rücksicht genommen werden. Andernfalls gehe es „in Richtung eines Bürokratiedschungels, den wir alle nicht wollen“. Als Beispiele für gescheiterte europäische Lösungen nennt Scheibner etwa die Bewältigung der Flüchtlingskrise oder die Pandemiebekämpfung. Europa setze auf die falschen Prioritäten und habe vor allem Maßnahmen zur Förderung des Wirtschaftswachstums „sträflich vernachlässigt“.

Petrovics Bilanz nach 30 Jahren EU-Mitgliedschaft fällt ähnlich differenziert aus wie jene Herbert Scheibners. So hätten sich viele Befürchtungen von damals bewahrheitet. „Die EU hat ihr Versprechen von großer sozialer Gerechtigkeit und mehr Umweltschutz nicht genügend umgesetzt“, so die ehemalige Mandatarin. Zudem hat die EU aus ihrer Sicht zu viele bürokratische Hürden und Normen aufgebaut, die gerade für kleinere Unternehmen schwer umsetzbar seien.

Die Frage eines Austritts stellt sich jedoch für Petrovic nicht. Das Projekt der EU – „ob gut oder schlecht“ – sei vor dem Hintergrund anderer „großer Player“, wie den USA, China oder Russland, notwendig. Europa sei aber „gut beraten“, einen eigenen Weg einzuschlagen. Für Petrovic geht es etwa um das Hochhalten der freien Meinungsäußerung, hier vermisse sie einen eigenständigen europäischen Kurs. Um nicht erpressbar zu werden, müsse die EU zudem ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit stärken, so die ehemalige Klubobfrau. (Schluss) med

HINWEIS: Das Parlament beleuchtet 2025 drei Meilensteine der Demokratiegeschichte. Vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, vor 70 Jahren wurde der Staatsvertrag unterzeichnet und vor 30 Jahren trat Österreich der EU bei. Mehr Informationen zum Jahresschwerpunkt 2025 finden Sie unter www.parlament.gv.at/kriegsende-staatsvertrag-eu-beitritt.

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